Dithmarschen und Dithmarscher
1. Was ist Dithmarschen?
Dithmarschen ist eine an der Nordsee gelegene Landschaft in Norddeutschland, die in vielerlei Hinsicht maritime Beziehungen aufweist. Die Grenzen von Dithmarschen sind durch die Natur, durch Wasser gezogen: Im Westen bildet die Nordsee die Grenze, im Norden die Eider, im Süden die Elbe und zum Osten verschiedene Moore, wobei der Nord-Ostsee-Kanal teilweise der alten Grenze folgt. Wer somit nach Dithmarschen gelangen will, muss irgendwann zwingend übers Wasser. Diese natürlichen Grenzen bestimmten auch immer die politischen Grenzen Dithmarschens. Politisch ist Dithmarschen als „Landschaft" erstmals in der Geschichte des Bremer Bistums durch den Magister Adam von Bremen um 1075 urkundlich erwähnt worden, der neben dem Gau der Holsteiner und Stormarner den am "occeanum" gelegenen „Tedmarsgoi" nennt.
2. Landschafts- und Siedlungsgeschichte
Die Landschaft Dithmarschens besteht im Osten aus den von Mooren getrennten Geestkernen der vorletzten Eiszeit (Saaleeiszeit). An diese hügeligen bewaldeten Moränenkuppen schließen sich im Westen die Seemarschen an. Dabei reicht die alte, seit etwa 500 v. Chr. entstandene alte Marsch bis zum hochmittelalterlichen Deichverlauf, an den sich in Norder- und Süderdithmarschen junge Seemarschen mit zahlreichen Kögen anschließen.
Eine erste Landnahme der für Viehhaltung gut geeigneten Salzmarschen setzte kurz nach Christi Geburt vom Geestrand aus ein. Während der Phase eines niedrigen Meeresspiegels entstanden zunächst Flachsiedlungen (Tiebensee), bevor man seit etwa 50 n. Chr. Wurten (Süderbusenwurth u. a.) als künstlicher Schutzhügel gegen das Meer errichtete. Archäologische Ausgrabungen auf zahlreichen dieser Wurten haben deren Alter, den Aufbau, die Häuser und die Wirtschaftsweise dieser Siedlungen klären können. Nachdem das Dithmarscher Küstengebiet im 3./4. Jahrhundert weitgehend verlassen wurde, erfolgte eine Neubesiedlung seit dem Ende des 7. Jahrhunderts.
Wiederum entstanden, wie in Wellinghusen bei Wöhrden nachgewiesen, auf hohen Marschuferwällen angelegte Flachsiedlungen. Erneut ansteigende Sturmfluthöhen erforderten seit dem 9. Jahrhundert erneut den Bau von aus Mist und Klei erhöhten Hofwurten, aus deren Zusammenschluss große, kontinuierliche Dorfwurten (Marne, Wöhrden, Wellinghusen, Hassenbüttel, Wesselburen u. a.) entstanden. Seit dem 10. Jahrhundert nahm die Bevölkerung zu und das Siedlungsbild verdichtete sich.
Auf den großen Dorfwurten bildeten sich dabei genossenwirtschaftlich organisierte Bauernverbände (Bauerschaften, Geschlechter) heraus, die organisiert in Kirchspielen zu Trägern des Deichbaus und des Landesausbaus in das bis dahin vermoorte Sietland wurden. Hier entstanden als typisches Abbild mittelalterlicher Plansiedlungen vom 12. bis 15. Jahrhundert langgetreckte Marschhufensiedlungen mit anschließenden Streifenfluren (Haferwisch, Wennemannswisch, Barlt u. a.). Wie Ortsnamen und Schriftquellen belegen, siedelten hier die mit den Urbarmachungen betrauten Geschlechter.
Seit dem 12. Jahrhundert sicherte dabei ein Seedeich die Dithmarscher Norder- und Südermarsch, der teilweise die Dorfwurten miteinander verband. Vor der Küste Norderdithmarschens lag die Insel Büsum, die im 14. Jahrhundert größtenteils unterging und deren Reste zusammen mit jüngerem Landanwachs seit der Mitte des 16. Jahrhunderts an das Festland angedeicht wurden.
Diese Gemeinschaftsleistung wurde in den folgenden Jahrhunderten fortgesetzt. Durch seine besondere Lage war Dithmarschen der Bereich, in dem an der Nordseeküste der höchste Landzuwachs in den vergangenen Jahrhunderten zu verzeichnen war, praktisch als Gegenstück zu der nordfriesischen Küste, die in dieser Zeit durch Sturmfluten viel früher besiedeltes Land aufgeben musste.
3. Die Dithmarscher Freiheit
Das neugewonnene Land, die „fette Marsch" ist aufgrund ihrer kalkreichen Böden sehr fruchtbar. Deshalb erwirtschafteten die Bauern hohe Erträge. Natürlich weckte dies Begehrlichkeiten der benachbarten Fürsten. Dithmarschen gehörte zwar nominell den Erzbischöfen von Bremen, de facto wurde bestand es aber bis zum Landrecht von 1447 aus einer Republik autonomer Kirchspiele, in denen die bäuerlichen Führungsschichten den Ton angaben. Mit dem Landrecht von 1447 entstand eine bäuerliche Republik mit einem Rat von 48 Regenten, die über Gesetzgebung, Verwaltung und auswärtige Politik entschieden. Eine Demokratie im heutigen Sinne war dies allerdings nicht, weil die auf Lebenszeit in das Gremium entsandten Entscheidungsträger nur aus den reichen und angesehenen Familien stammten. Die armen Leute hatten damals in Dithmarschen genauso wenig zu sagen wie diejenigen unter einer Fürstenherrschaft.
Insbesondere der holsteinische Adel und die dänischen Könige versuchten in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen, Dithmarschen zu unterwerfen, was allerdings viele Male nicht gelang. Besonders bekannt ist die Schlacht bei Hemmingstedt am 17. Februar 1500. In diesem Feldzug wollte der dänische König und der schleswig-holsteinische Adel Dithmarschen unterwerfen, wozu man die aus 3000 Söldnern bestehende gefürchtete Schwarze Garde anwarb und auch die schleswig-holsteinischen Ritterschaft und das bäuerliche Aufgebot mobilisierte, somit mit einem Heer von rund 12 000 Männern in Dithmarschen einfiel. Diesem gewaltigen Aufgebot konnten die Dithmarscher nur etwa 6000 Mann entgegen stellen.
Über den Geestrücken von Albersdorf brach das Heer in Dithmarschen ein und besetzte Meldorf. Nachdem der dänische König zum weiteren Aufbruch drängte, setzte sich am 17. Februar der Heerhaufen auf der schmalen alten Landstraße auf dem Weg nach Heide in Bewegung. Diesen unbefestigten alten Landweg hatten die Dithmarscher bei Hemmingstedt mit einer Schanze versperrt. Zudem hatte sie die Deichsiele geöffnet und wohl auch Deiche durchstochen, so dass das Wasser in der Marsch stieg. Daher konnte das adelige Heer seine Überlegenheit nicht ausspielen und wurde an der Schanze - nach einem vergeblichen Umgehungsversuch - aufgerieben.
Die erbeutete dänische Flagge (Danebrog) wurde im übrigen für fast 60 Jahre in der Kirche Wöhrden verwahrt. 1559 dann hatte diese Freiheit ein Ende: Der dänische König hatte einen sehr fähigen Feldherrn - Johann Rantzau - der die Unterwerfung Dithmarschens plante und dann auch zielgerichtet durchführte. Die Dithmarscher kapitulierten nicht, sondern schlossen einen Beherrschungsvertrag, in dem sie sich weitgehende Rechte vorbehielten. Allerdings mussten sie Steuern und Tribute entrichten.
4. Dithmarschen unter herzoglicher, dänischer und preußischer Herrschaft
Nach 1559 wurde das Land zunächst drei-, später zweigeteilt, indem Norderdithmarschen unter die Herrschaft des Herzogs von Schleswig-Gottorf, Süderdithmarschen hingegen unter die des dänischen Königs kam. Nach dem Ende der Gottorfer Herrschaft 1774 wurde auch der nördliche Landesteil bis 1864 königlich regiert. Da die neuen Landesherren die Vorländer für sich beanspruchten entstanden - oft gegen vergeblichen Protest der einheimischen Bauern - zahlreiche neue Köge, deren Land verpachtet wurde. Nach dem Krieg des Deutschen Bundes gegen Dänemark 1863/64 wurde Dithmarschen mit Holstein von Österreich, Schleswig von Preussen aus verwaltet, bevor nach dem für Preussen siegreichen deutschen Krieg Schleswig-Holstein durch das Besitzergreifungspatent zu einer preußischen Provinz wurde. Norder- und Süderdithmarschen bildeten nun zwei Landkreise. Dieser politische Wechsel war im Ergebnis wesentlich einschneidender als der Übergang von der Selbstverwaltung Dithmarschen zur dänischen Herrschaft.
5. Die Dithmarscher sind gar nicht so
Aber wer sind die Dithmarscher? Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges konnte man vielleicht noch von den Dithmarschern sprechen. Viele - auch durch kriegerische Auseinandersetzungen ausgelöste - Immigrationen sind an Dithmarschen aufgrund seiner Insellage vorbei gegangen, so dass man möglicherweise von einer Gesellschaft sprechen kann, die ihre Eigenheiten über die Jahrhunderte bewahrt hat. Dabei darf allerdings nicht unberücksichtigt bleiben, dass im Zuge des wirtschaftlichen Aufstiegs der Landwirtschaft im ausgehenden 16. Jahrhundert viele Menschen - heute würde man sagen: Gastarbeiter - ins Land gekommen sind. Der größte Zustrom vollzog sich allerdings nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als viele Heimatvertriebene und Flüchtlinge gerade in den schwächer besiedelten ländlichen Gebieten Schleswig-Holsteins untergekommen sind. Aus heutiger Sicht wird man sagen müssen, dass dies eine längst überfällige Auffrischung gewesen ist. Die Dithmarscher gibt es - wenn es sie denn überhaupt einmal gegeben hat - heute jedenfalls nicht mehr, jedenfalls nicht als Volksstamm im Sinne Adams von Bremen von 1075.
Wenn heute von Dithmarschern die Rede ist und von ihrem regionalen Stolz - bei jeder Gelegenheit weist jeder in Dithmarschen Heimische auf die siegreiche Schlacht bei Hemmingstedt hin - so ist damit weniger die Zugehörigkeit zu einem wie auch immer gearteten Volksstamm gemeint, sondern ist es eher Ausdruck einer bestimmten Haltung. Dem Besucher aus südlichen Landstrichen kommen diese Dithmarscher möglicherweise zunächst etwas eigenartig vor. Es ist allerdings eine wohl für Norddeutsche typische Einstellung: Erst einmal abwarten, sein Gegenüber beäugen, „Will der mir vielleicht an's Leder?". Wenn der Besucher dann als grundsätzlich in Ordnung befunden wird, öffnet sich auch der Norddeutsche bald und ist durchaus offen und gesprächig. Bis zu einer wirklichen Freundschaft allerdings ist es dann meist noch ein weiter Weg. Hat man aber einen Dithmarscher zum Freund, steht er einem zuverlässig zur Seite. Dithmarscher sind also gar nicht so. Dithmarscher - wohl verstanden nicht als Angehörige eines Stammes, sondern als Ausdruck einer Haltung: Zurückhaltend, prüfend, stolz, heimatverbunden und bodenständig.
6. Trennlinien und Gemeinsames
Und doch gibt bei aller Gemeinsamkeit sichtbare und unsichtbare Grenzen. Zunächst ist da die Ost/Westgrenze. Im Osten die Geest, bis vor rund 50 Jahren kleinere Bauernhöfe auf kargen Böden, bescheiden und ausgesprochen stark der eigenen Scholle verbunden, wo viele Höfe über mehrere hundert Jahre in derselben Familie blieben. Auf der anderen Seite das neugewonnene, teilweise dem Meer abgerungene Land, die fette Marsch, schwere Böden, reiche Ernten - bewirtschaftet nicht von Bauern im herkömmlichen Sinne, sondern von Agrarkaufleuten. Diese Bauern haben immer Land bewirtschaftet, sie haben sich aber von ihrem Hof auch schnell trennen können, haben ihn verkauft und wieder einen neuen erworben.
Daneben existiert die Nord/Südgrenze. So war Dithmarschen nach 1559 zunächst in drei, später in zwei Teile getrennt gewesen, aus denen in preußischer Zeit die Kreise Norder- und Süderdithmarschen mit den Kreisstädten Heide und dem alten Dithmarschern Landesvorort Meldorf wurden. Durch die so bis in die 1970er Jahre getrennten Verwaltungen sind doch Unterschiede gewachsen, die in Teilbereichen noch bis heute nachwirken. Auslöser für die vielfältigen Konflikte zwischen Norder- und Süderdithmarschen war im späten Mittelalter der Handel mit der Hansestadt Hamburg gewesen. Während die norderdithmarscher Kirchspiele und die in ihnen organisierten einflussreichen Bauern Verträge mit Hamburg schlossen, raubten die Süderdithmarscher die Koggen der Hanseaten auf der Elbe einfach aus. Da aufgrund dieser Konflikte die Landesversammlung nicht mehr in Meldorf tagen konnte, trafen sich die Norderdithmarscher Vertreter auf der Heide in der Mitte ihres Landesteils. Daraus entstand der Ort Heide, wo dann bald die Landesversammlung und der neue Rat der 48 Regenten tagte.
Noch bei der Zusammenlegung beider Landkreise brachen diese Konflikte wieder auf. Welcher Ort sollte Kreisstadt sein? Welches Wappen sollte es sein? Das „Unterwerfungswappen" des Dithmarscher Reiters mit dem Schweif des Pferdes nach oben wie in Norderdithmarschen oder nach unten wie in Süderdithmarschen. Das waren durchaus gewichtige Fragen - aber genau das macht auch eine regionale Eigenart in einem Europa der Regionen aus.
Aber diese inneren Dithmarscher Konflikte - und diese gab es von den mittelalterlichen Fehden zwischen Geschlechtern und Kirchspielen vom Mittelalter bis zu heutigen demokratischen Auseinandersetzungen zwischen Kommunen - treten völlig in den Hintergrund, wenn nach außen hin der Dithmarscher als Dithmarscher auftritt. Dann ist es egal, ob er aus dem Norden oder dem Süden kommt, ob er von der Geest oder aus der Marsch stammt, wir sind eben alle Dithmarscher und - um mit dem inzwischen geflügelten Wort eines Berliner Politikers zu sprechen: „Das ist auch gut so".
Dr. Henning Ibs